Ich stand am Fenster unserer warmen Stube und sah hinunter auf die Straße. Es war ein Tag vor Weihnachten, ein Tag vor Heiligabend. Draußen tobte ein eisiger Schneesturm und fegte den schon am Vortage reichlich gefallenen Schnee zu hohen Wehen zusammen. Sie türmten sich vor jedem Gartenzaun und versperrten die Hofpforten.
Mutter schmückte schon den Weihnachtsbaum und ich durfte die kleinen Krippenfiguren aufstellen. Alle Arbeiten im Haus waren fast beendet. Zufriedenheit mischte sich mit heiterer Behaglichkeit und Feststimmung kam auf. Sie blitzte aus jedem Winkel unserer kleinen Wohnung im Erdgeschoss des Mietshauses in der Roßtrappenstraße. Tagelang hatte Mutter geputzt und gescheuert, um die Festtage vorzubereiten.
Außer mir und meinen Eltern wusste keiner über das Geheimnis unter unserer Wohnung im Kellergeschoß. Dort unter dem Holzboden hatten wir eine jüdische Familie versteckt.
Szene aus dem Film von Inglourious Basterds
Das würde ein frohes Familientreffen geben mit gegenseitigen kleinen Geschenken, und Überraschungen. Welche Überraschung mich wohl erwarten würde, was es wohl sein könnte, was die Mutter mir Morgen schenken würde. Auf einmal erklang von der Straße unten, das Weihnachtslied “Stille Nacht, heilige Nacht”. Eine Drehorgel spielte es und eine zitternde Frauenstimme sang dazu. Ich trat ans Fenster und sah hinunter zu den Straßensängern. Ich sah eine ärmlich gekleidete Frau, die sich zum Schutz gegen die Kälte ein altes Tuch um den Kopf gewunden hatte. Plötzlich brach das Lied ab. Man hörte eine Männerstimme schimpfen. Ich zuckte nach hinten. Dann hörte ich marschierende Stiefel auf der Strasse, sie wurden immer lauter und kamen unserer Wohnung näher. Nazis waren unterwegs, um versteckte Juden zu suchen. Sie klopften an unserer Tür. Wir erstarrten und standen zitternd in der Küche. Die Versteckten waren direkt unter unserem Boden und hörten wie die Nazis, erst die Eltern einem nach dem anderen ausfragten.
Sie durchsuchten die ganze Wohnung. Vati und Mutti hielten still und verrieten unser Geheimnis nicht. Dann trat einer von ihnen auch zu mir. Meine Hände zitterten, als er sich bückte, mir in die Augen schaute und mit leiser, freundlicher Stimme fragte: „Habt ihr Juden bei euch zu Hause?“
Ich bückte mich unter den Baum und holte das kleine jüdische Christkind Jesus aus der Krippe und zeigte es ihnen.
Die beiden Nazis schauten verwirrt, drehten sich abrupt um und verließen das Haus. Die verängstigten Juden, die unter dem Boden versteckt waren, dankten Gott für ihre Rettung. Erleichtert und fröhlich umarmten wir uns. Nun konnte die Weihnachtsfeier in voller Gemütlichkeit beginnen, erfüllt mit doppelter festlicher Freude.