Vor fast zwei Jahrtausenden, nach der Tempelzerstörung und der globalen Zerstreuung, kehrte das jüdische Volk in seine Heimat zurück und siegte in einem scheinbar aussichtslosen Krieg gegen alle arabische Nachbarstaaten. Doch mit Gottes Hilfe gelang es dem Volk Israel nur drei Jahre nach dem Holocaust gegen jede Wahrscheinlichkeit, den Staat Israel zu gründen.
„Wer hat je so etwas gehört? Wer hat etwas Derartiges gesehen? Wurde je ein Land an einem Tag zur Welt gebracht? Ja, Zion wird es so ergehen!“ (Jes. 66,7-8)
Wie könnte man nicht in Jubel ausbrechen und die monumentale Bedeutung dieses Ereignisses erkennen? Das Volk Israel hat seine nationale Größe wiedererlangt! Es hat seine Souveränität im eigenen Land zurückerobert! Wir feiern Israels 77. Unabhängigkeitstag.

Doch während wir die Errungenschaften feiern, bleibt ein wesentlicher Aspekt oft unbeachtet: die geistliche Dimension der Wiedergeburt Israels. In den vielfältigen Schichten der israelischen Gesellschaft – sei es säkular (45 %), orthodox (16 %) oder religiös (36 %) – ist die biblische Bedeutung in den letzten Jahren zunehmend in den Hintergrund getreten.
Wie sehen die säkularen Israelis die Bedeutung des Staates Israel?
Für viele säkulare Juden ist Israel eine unverrückbare Realität, in die sie hineingeboren wurden und ein Symbol ihres Nationalstolzes sowie ihrer Sicherheit. Der Unabhängigkeitstag stärkt ihre Identität und wird mit Stolz gefeiert. Für sie wäre es wohl auch möglich, anderswo ein Zuhause zu finden. Viele junge Israelis, die am Beginn ihres Lebensweges stehen, ziehen ernsthaft in Betracht, ihre Zukunft im Ausland zu gestalten, obwohl Israel eine der höchsten Lebenserwartungen weltweit bietet und im Glücksindex ganz oben rangiert. Bis zum Pogrom vom 7. Oktober 2023 war das Sicherheitsgefühl angemessen und der Sicherheitsvorwand kein Grund, das Land zu verlassen. Für sie ist der Militärdienst zu einer Art jugendlicher Herausforderung geworden.
In den Jahren vor dem Pogrom am 7. Oktober widmeten die linken und säkularen Medien den strategischen Bedrohungen kaum Beachtung. Sie betrachteten die Sicherheitsprobleme in Israel ähnlich, wie die Luftverschmutzung in Hongkong wahrgenommen wird – man hatte sich daran gewöhnt. Sie gingen davon aus, dass die Hamas abgeschreckt sei, und sahen die eigentliche Gefahr eher in „Bibi“ (Benjamin Netanjahu) und seiner Koalition, die aus religiösen und bibeltreuen Parteien besteht. Der anhaltende Raketenbeschuss wurde von ihnen als ein lokales Problem der südlichen Bewohner betrachtet, während der Terror als Angelegenheit der jüdischen Siedler in Judäa und Samaria abgetan wurde.
Die zentrale Frage nach der Bedeutung der Wiederherstellung des Staates Israel bleibt für viele unbeantwortet. Im säkularen Spektrum herrscht oft eine innere Leere, da der Zionismus seine Ziele nicht religiös formulierte. Stattdessen bot der Staat Israel, gegründet von visionären Atheisten wie Theodor Herzl, eine Zuflucht vor jahrhundertelanger Verfolgung und die Chance auf einen Neuanfang in Eretz Israel. Die Unabhängigkeitserklärung beginnt daher mit: „Im Land Israel entstand das jüdische Volk.“
In Wahrheit aber entstand das Volk Israel schon vor über 3.000 Jahren, kurz vor ihrem Einzug ins Gelobte Land: „Am heutigen Tage bist du ein Volk des HERRN, deines Gottes, geworden.“ (5. Mose 27,2+9)
Die säkulare Gemeinschaft gewöhnt sich langsam an das Auftreten von Orthodoxen im säkularen Leben. Zwar werden die Hassäußerungen immer extremer, doch gleichzeitig nimmt auch die Verbundenheit zur Tradition bei den Säkularen zu – insbesondere unter den Soldaten und der jungen Generation, die nach dem 7. Oktober in den Krieg eingezogen wurden.
Wie sieht die orthodoxe Gemeinschaft die Bedeutung des Staates Israel?

In der jüdischen Gemeinschaft wird diskutiert, ob der Unabhängigkeitstag Israels eine geistliche Bedeutung hat oder im Orthodoxismus unbeachtet bleibt. Die zentrale Frage ist, ob Israel ein göttliches Erlösungskapitel oder nur eine historische Fußnote ist und ob Gebete für Israels Frieden in das tägliche Gebet integriert werden sollten.
Sie fragen sich ernsthaft: Wenn es auch möglich gewesen wäre, ins Heilige Land einzuwandern, dort die Gebote der Besiedlung des Landes Israel (persönlich) zu erfüllen, wie auch die Thora zu studieren und die Gebote dort auf sichere Weise zu erfüllen, wäre es dann angemessen und notwendig gewesen, den Staat zu gründen? Die klassische Antwort der meisten orthodoxen Juden ist, dass es von vornherein falsch war, einen säkularen Staat für Juden zu gründen.
Trotz der frühen Bemühungen der Chassidim um jüdische Ansiedlung in Israel prägte die zionistische säkulare Bewegung den politischen Charakter. Für Orthodoxe ist es schwer vorstellbar, dass Israels Erlösung von einer weltlichen Bewegung getragen wird. Die Beziehung der orthodoxen Gemeinschaft zum Staat entwickelte sich erst allmählich, trotz wachsender Offenheit und Integration.
Die orthodoxe Gemeinschaft ist gezwungen, die Existenz des Staates zu akzeptieren und versucht sogar zunehmend, ein Teil davon zu sein und sich mit seinem Lebensstrom zu verbinden. Sie geben ihr Leben im Zelt der Tora, und in diesem Zusammenhang ist ihr kultureller Beitrag sehr groß, da es ihnen normalerweise gelingt, den Glauben der nächsten Generation zu bewahren. Aber der Preis ist hoch. Die hartnäckige Trennung von der säkularen und traditionellen Gesellschaft und das damit verbundene Beharren darauf, keinen Militärdienst zu leisten, stellen ein moralisches Problem dar. Das Festhalten an der Verweigerung akademischer Bildung und der Arbeit in gemischten Umgebungen schränkt die wirtschaftlichen Chancen der Orthodoxen erheblich ein und erschwert ihre gesellschaftliche Etablierung.
Bedeutung des Staates für die religiös-nationale Gemeinschaft

Die religiös-nationalen Juden mit den gestrickten Kippas, welche hauptsächlich aus den jüdischen Siedlungen stammen, verlassen sich auf die Lehre von Rabbiner Kook, der in seinem Denken stets wusste, wie man den Inhalt von seiner äußeren Hülle trennt.
In der Realität entfernt sich der Staat Israel zunehmend von jeglichen Merkmalen einer tief verwurzelten jüdischen Identität und seiner geistlichen Bedeutung. In sämtlichen religiösen Aspekten – vom Schabbat über das koschere Leben bis hin zur Familie – sowie in nationalen und religiösen Belangen – wie der Abgabe von Teilen des Landes und der Bewahrung der nationalen Sicherheit und Ehre – erlebt Israel einen Tiefpunkt und einen kontinuierlichen Abstieg. Diese Gemeinschaft verschließt vielfach die Augen vor dieser schwindenden geistlichen Realität.
Die Zerstörung der jüdischen Siedlungen im Gazastreifen 2005 stellte in der Wahrnehmung der religiösen Zionisten einen theologischen Tiefpunkt dar, und die Schreie der Jugendlichen, die damals den Sand von Gusch Katif überfluteten, um den Abzug zu verhindern, waren in Wirklichkeit Schreie über einen ideologischen Bruch und nicht über den Zusammenbruch der Siedlungen und Häuser.
Der Pogrom am 7. Oktober 2023 war ein weiterer Wendepunkt. Hier erwies sich der Zionismus, der auf religiösem Zionismus basiert, als unzureichend, um die grundlegenden Bedürfnisse zu erfüllen, für die er einst ins Leben gerufen wurde – die Sicherung der physischen Existenz. Könnten die orthodoxen Extremisten recht gehabt haben, als sie prophezeiten, dass dieser säkulare Nationalismus lediglich eine weitere Form des Exils darstellt? Der Pogrom und der folgende Gazakrieg bedeuteten einen bedeutenden Fortschritt für den religiösen Zionismus, da die neue Generation der IDF-Soldaten und Kämpfer, hauptsächlich religiös-nationale und jüdische Siedler, herausragt.
Einerseits hat sich der religiöse Zionismus in der öffentlichen Wahrnehmung dadurch einen prestigeträchtigen Platz innerhalb des zionistischen Projekts erobert – trotz aller Bemühungen seitens der säkularen Gesellschaft, ihn aus den Machtzentren und nationalen Entscheidungsprozessen zu verdrängen.
Die religiös-zionistische Gemeinschaft hat sich in bemerkenswerter Weise von den Orthodoxen unterschieden. Für die Mehrheit der jungen Menschen in diesem Bereich hat die Ideologie an Bedeutung verloren, doch ihr Einfluss auf alle Lebensbereiche ist immens. Die IDF ohne ihren Beitrag? Unvorstellbar. Ohne sie wären die Siedlungen in Judäa und Samaria undenkbar, ebenso wie Soldaten, die mit leidenschaftlicher Überzeugung für Israels Sicherheit eintreten. Diese Gemeinschaft ist einzigartig in ihrer kollektiven Verantwortung für das Schicksal des jüdischen Volkes und bleibt ein unverzichtbarer Pfeiler der nationalen Identität.
Der Pogrom vom 7. Oktober hat bewiesen, dass der „Sternenstaub“ des religiösen Zionismus tief in den Adern seiner Anhänger verankert ist und in den entscheidenden Momenten der nationalen Krise aufleuchtet und seine unverzichtbare Stärke offenbart – eine Stärke, ohne die die Nation kaum bestehen könnte.
Fazit
In den 2.000 Jahren des Exils hat die orthodoxe Religion die jüdische Identität bewahrt, jedoch gleichzeitig auch in der Ferne gehalten und verankert. Die visionären Bestrebungen der säkularen Zionisten waren daher ein notwendiger Schritt zur Gründung eines Staates für das jüdische Volk.
So wie die hebräische Sprache „im Land aufstieg“ und sich von einer religiösen Sprache in eine Nationalsprache verwandelte, so wird auch die Tora aus der religiösen Dimension der Diaspora „im Land aufsteigen“ und zum Wegweiser des Volkes werden.
Ohne die Rückbesinnung auf seine göttliche Mission und die ursprüngliche Bestimmung des Volkes kann Israel seine Zukunft nicht sichern. Das Pogrom vom 7. Oktober und die damit verbundenen Ereignisse haben eindrucksvoll verdeutlicht, dass die Zukunft und das Fortbestehen des Staates Israel untrennbar mit einer Rückbesinnung auf seine biblischen Wurzeln verbunden sind. Nur durch die Wiederentdeckung dieser ursprünglichen Bestimmung und der damit einhergehenden Energien, die den Menschen in Zion Sinn und Ziel verleihen, kann Israel seine Existenz nachhaltig sichern.
Das Gefühl der Leere am Unabhängigkeitstag entsteht, weil die harmonische Verbindung der drei gesellschaftlichen Strömungen Israels noch nicht vollständig verwirklicht ist. Doch dieser Prozess ist im Gange und Gott wird zum Ziel kommen mit seinem Volk. Lasst uns diesem 77. Unabhängigkeitstag die Chance geben, zu reifen und zu gedeihen. Schließlich ist er der jüngste unter den israelischen Feiertagen und birgt das Potenzial für eine strahlende Zukunft.
Das Volk Israel ist nicht in sein Land zurückgekehrt, um zu überleben, sondern, um „Licht der Nationen“ zu sein, „Weisung aus Zion“ zu verkünden nachdem sie auf „ihn schauen, den sie durchbohrt haben“. (Jes. 49,6; Sach. 12,10; Micha 4,2).
